Die chinesische Methode

Heute möchte ich Euch an Julia Cameron und ihre Artist Dates – Künstler:innentreffs – erinnern. Perfekte kleine Auszeiten zum inspirieren lassen, entspannen, auftanken.

Die Maße: Zwei Stunden, einmal die Woche.

Journal Writing wird so viel lustvoller, wenn wir uns diese kleine Eskapade gönnen – und darüber schreiben. Sie bringen Genuss in unser Leben, erweitern unsere Palette an Eindrücken – und Ausdrücken. Geben uns das Gefühl von Freiheit und eignen sich besonders, wenn wir Spielräume und unseren Horizont erweitern wollen.  Zuletzt erlebt: Gestern.

Der Stuhl unter mir begann sonor zu röhren, dann schien er sich zu bewegen, zunächst spürte ich etwas in Faustgröße in meinem unteren Rücken, das sukzessive an meiner Wirbelsäule entlang drückte. Sehr angenehm. Bei den Schulterblättern rotierte die Faust unversehens, drückte an Stellen, die seit Stunden schmerzten, ach, was sag ich, seit Tagen, Wochen.

Unten an meinen Füßen blubberte derweil das Wasser, giftgrün, aber vollständig geruchlos. Es stammte aus einer der vielen weißen Plastikflaschen und Tiegel ohne Aufdruck, die mich ein wenig misstrauisch machten. War das da drin hautfreundlich? Würde morgen wieder alles an mir jucken und sich womöglich entzünden?

Der Pulli der kleinen zarten Chinesin, die den Wasserhahn bediente, war passend zur Wasserfarbe (Regenwald- Schlangengrün, wie ich beschloss) gewählt und inspirierte mich zum Grübeln, wo um alles in der Welt so ein Kleidungsstück aufzutreiben sei. Einem Stil konnte ich es nicht zuordnen, chinesisch erschien er mir nicht.

Erstmals in meinem langen Leben war ich in einem Nagelstudio gelandet, wie es sie in Bremen vielfach gibt, nicht in den besten Lagen, eher am Rande, in Seitenstraßen, da wo die Mieten erschwinglich sind: Beauty Nails hieß dieses, die pinken Figuren, Plastikorchideen und die Leuchtketten, die wie ein Feuerwerk im Fenster explodierten, hatten mich bislang abgeschreckt.

Nicht, dass ich Pediküre zu meinen Hobbies zähle. Es war vielmehr die Exotik, die mich reizte. Nach Monaten, in denen Neues zu erkunden nur beim Streamen und in Büchern möglich war, wollte ich für eine Weile in eine andere Welt eintauchen, ohne Covid-Tests und Quarantäne danach.

Mittlerweile hatte die Ladenbesitzerin zu meinen Füßen ihre Arbeit aufgenommen. Mit Hingabe rieb sie Rubbelschaum auf meine Waden, Knöchel und Füße, die erste Hautschicht war schon weg, wie ich zu fühlen meinte. Trotzdem sehr, sehr aaaaaangenehm.

Ich schloss meine Augen, der Massagestuhl hatte Nacken und Kopf erreicht. Eine Faust ballerte sanft gegen mein Hinterhaupt und ich verstand: Auch dieses Gerät war auf 1,80 Meter große Männer geeicht und zielte gerade auf meine Schultern, die bei Frauen rund 30 Zentimenter tiefer angesiedelt sind. Sei’s drum. Gleich würde die Faust wieder meine Rückenmitte erreichen.

Die Hände der Chinesin massierten nun weiße Creme auf meine Füße in kreisenden Bewegungen am Fußballen, und an der Achillessehne. Ach ja, die gibt es ja auch, dachte ich, und begann zu dösen.

In meiner Innenwelt tauchte Maxine Hong Kingston und ihr Woman Warrior auf, ein Buch, das mich vor zwanzig Jahre so unvermittelt in eine ferne, aufregende Mythenwelt mitnahm und nicht mehr losgelassen hatte. Mutter und Tochter, chinesische Einwanderer in Amerika, ihr Alltag, ihre grausame Geschichte und ihre Versuche, ein neues Leben in Amerika zu starten.

War ich hier in dieselbe Geschichte, diesmal in Deutschland, hinein geraten?

Ein hochgewachsenes dunkelhaariges Mädchen hatte den kleinen, kaum 50 Quadratmeter messenden Laden betreten und sprach in einem wundersamen Singsang zu der kleinen Frau an meinen Füßen. Und die Frau sang zurück. Zwei Feenfrauen unter sich. Glöckchenhell klang das Lachen der kleineren, eine Oktave tiefer, immer noch hell, das Lachen der älteren. Mir hatte die Frau nur wenige, kaum verständliche Anweisungen gegeben: „Hoch“ sowie „unten“, um mir zu zeigen, wo ich meine Füße platzieren sollte.

Worüber sprachen die beiden? Wie war ihr Verhältnis? Die Tochter – so alt wie meine eigene – lächelte ihre Mutter an, wie meine es zuletzt vor fünf Jahren getan hatte. Doch ich hatte nur einen Zipfel ihrer gemeinsamen Welt wahrgenommen. Da war so viel, was ich nur vermuten konnte. Ich war „intrigued“, das englische Wort beschreibt das wohlwollende Interesse, das mich immer wieder auf Entdeckungsreise schickt und Erfahrungsschätze und Erkenntnisperlen einsammeln lässt.

Nach zwei Stunden strahlten meine Zehennägel in mattem Weiß, farblich passend zu meinen Beinen bis zum Knie, gut geschrubbt, eine Hautschicht noch intakt. Als ich zahlte und ging, lächelte die Frau ein Glöckchenlächeln und sagte ihr drittes und viertes deutsches Wort an diesem Nachmittag: Du mal wieder kommen?

Ja, sehr bald, dachte ich, nickte und ging.

Einladung

Wann wart Ihr das letzte Mal in einer neuen Situation, die Euch neugierig gemacht hat? Was wolltet Ihr immer schon mal ausprobieren, ein Besuch in der Bonbon-Manufaktur, eine Klangmassage, ein Flug im Heißluft-Ballon? Der Sommer bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ahnt Ihr die Möglichkeiten doch schon – dann bitte ergreift sie , schreibt darüber und lasst uns teilhaben.

Ich freue mich drauf!
Eure Birgit

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