Es war einmal, da lag die Zeit des Sommers vor mir wie ein unendlicher Ozean der Möglichkeiten. Damals fühlte sich der letzte Schultag an wie der Beginn der Ewigkeit. Sechs Wochen keine Schultasche packen, keine Hausaufgaben machen bis spät abends, keine Butterbrote essen, die mir nicht schmeckten und die blöde Frau S., ihres Zeichens Mathelehrerin, konnte mich mal. Jetzt, gleich, würde die Zeit anfangen, in der die Badesachen auf der Leine keine Zeit hatten, trocken zu werden.
Herrlich sentimentale Erinnerungen sind das, die das Sommerloch füllen, diese Zeit des Versinkens in der Happy-Zone. Am ersten Ferientag tat ich den Schritt in die Parallelwelt, ich fühlte mich befreit und ein bisschen wie Alice, die ins Wunderland gerät. Mein Wunderland bestand manchmal aus den Feldern und Seen rund ums heimische Dorf, oft aber auch in Gegenden, die ich sonst nur von Postkarten kannte.
So wie damals, auf einem Campingplatz in Bayern, Berge rundum, Gipfel mit Schneemützen, für ein Nordsee-Kind unfassbar. Ein, zwei Sommer lang gab es da außerdem den Hubi, oder: Huabi, den um ein paar Jahre älteren Jungen im Nachbarwohnwagen. „Huabi“, ich liebte es seinen Namen auszusprechen, während sich im Laufe der Wochen von mir unbemerkt ein immer stärkerer bayerischer Akzent in meine norddeutsche Aussprache schummelte. Als meine Mutter das kommentierte, wurde ich zu meinem eigenen Erstaunen rot, wohl weil ich den Huabi schon ein bisschen mochte, denn er war ein „foaner Buab“, wie mein Onkel meinte. Mit Huabi zusammen auf dem Steg sitzen und Bretzel essen, danach abwechselnd von der kleinen Bade-Insel in den täglich wärmeren See springen, schließlich Wettpaddeln mit unseren Schlauchbooten, abends am Feuer Weißwurst mit süßem Senf verputzen. Ich war selig und fühlte mich wahnsinnig erwachsen.
Eines Tages lud Huabi mich dann zum Fischen ein, mich allein, keins der anderen Kinder in unserer Wohnwagenreihe durfte mit, und ich freute mich wie Dornröschen. Doch die Romanze endete abrupt. Sie endete in dem Moment, als ich sah, wie mein „foaner Huabi“ den wehrlosen, zappelnden Regenwurm mit brutaler Geste auf den Angelhacken spießte. In diesen kurzen Sekunden wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ganz furchtbar nette Menschen ganz furchtbare Sachen machen konnten. Trotz dieser Erkenntnis ließ ich mir von Huabi die Angelrute in die Hand drücken und saß brav auf dem Steg, bis tatsächlich, oh wie furchtbar, ein Fischlein an meinem Haken hing. „Jo mei, do hoat oana zuagschnappt“, rief Huabi, und ich hatte Mühe, mir panisches Kreischen zu verkneifen. Und als Huabi mit routiniertem Griff den Fisch vom Haken nahm und mir bestätigend zunickte, damit ich den Fisch in meinen Beute-Eimer legen konnte, warf ich ihn mit einem ganz norddeutschen „Schnell weg mit Dir“ in hohem Bogen zurück in den grünen See. Huabi, dessen Vater Jäger ist, sah mich verständnislos an, als ich ihm erklärte, wie leid mir das Fischlein tat. Und er schüttelte traurig den Kopf, als ich ihm ankündigte, niemals einem Tier Leid zufügen zu wollen. Ganz geglückt ist das nicht, schließlich esse ich ganz selten noch Bio-Hähnchenfleisch, aber eine Angelrute habe ich mein ganzes Leben lang nicht mehr in die Hand genommen. Die Beziehung zu Huabi kühlte in jenem Sommer merklich ab, die Nachmittage auf dem Steg wurden seltener und die nebeneinander verspeisten Weißwürste schmeckten seltsam fad.
Als ich im nächsten Jahr wieder kam, erkannte ich meinen Ferienfreund kaum wieder, sein weicher bayerischer Tonfall war eine Oktave tiefer gesunken, sein Kopf und der ganze übrige Körper in die Höhe geschossen. Am meisten erstaunte mich aber sein Kinn, es sah merkwürdig eckig aus und war übersät mit Bartstoppeln. Huabi war – so schien es mir – ins Lager der Erwachsenen übergewechselt.
Huabi und meine Fisch-Geschichte gehören zu meinen liebsten Erinnerungen aus den Zeiten zwischen den Schuljahren, Zeiten, in denen sich fast unbemerkt Entscheidendes tat. Wenn ich aus dem Ferien-Ozean wieder auftauchen musste, spürte ich die Veränderung, ohne sie in Worte fassen zu können. Die Wehmut, die ich fühlte, wenn ich mit Mutter oder Großmutter Hosen und Pullis für den Schulbeginn kaufte, galt nicht nur dem Ende der freien Zeit, sondern auch der Erkenntnis, wieder ein Jahr, eine Etappe, eine Kleidergröße hinter mir zu lassen.
Der Schritt nach vorn und die Vorfreude auf das, was sich nun entwickeln würde, entschädigte mich jedoch meist schnell. Und so war ich aufgeregt und froh, wenn ich im einzigen Fachgeschäft des Ortes in der letzten Ferienwoche die vorbestellten Schulbücher abholen ging. Oft traf ich da Klassenkamerad:innen, die in gleicher Mission dort waren, und während unsere Mütter Geodreiecke, Zirkel, Stifte oder Patronen für den Geha oder Pelikan-Füller bezahlten, begannen wir, uns gegenseitig unsere Geschichten aus dem Sommerloch zu erzählen …
Wir alle haben diese Zeiten zwischen den Schuljahren erlebt und geliebt. Oder nicht? Was ist Dir passiert, was hast Du gelernt? Gab es denkwürdige Erlebnisse? Superschöne? Oder möchtest Du manche am liebsten streichen? Hattest Du einen Huabi wie ich, oder hießen Deine Sommerbekanntschaften eher Vivienne, Serge, Harry, Olek oder Helena?