Blog-Post von Beth Kephart, übersetzt, gekürzt und editiert von Birgit Schreiber
Wer ein Memoir schreibt, dem muss es gelingen, den Moment kunstvoll und ansprechend fest zu halten und wieder entstehen zu lassen. Der Trick ist, das Wunder, das Mysterium, die Tiefe, die in einem einzigen Moment in der Zeit liegen, wiederzugeben. Es gilt, in der Lage zu sein, das Gewöhnliche und auch das Ungewöhnliche auf die Waagschale zu legen. Wir müssen eine Frage stellen und eine Antwort versuchen. Wir müssen unsere Neugier entfesseln. Wir müssen einen Moment besonders machen und ihn einfangen können. Die Bandbreite der Themen ist endlos. Wir bewahren diese Momente, wir halten sie am Platz, bis wir bereit sind für sie. Wir halten unsere Sinne wach und aufmerksam. Sehen, Hören, Fühlen, Ertasten, Riechen, Schmecken, Wissen, Erahnen, all das ist nicht nur Talent oder Bürde -es ist eine Fähigkeit, eine Kunst, eine ganz eigene Disziplin.
Das Werkzeug der Wahl ist ein Tagebuch, ein Journal oder ein Notizbuch.
Du kannst Dir das Notebook vorstellen, wie es Lydia Davis tut, als eine Art externes Bewusstsein:
„Das Journal ist mein zweites Gehirn, es enthält, was ich manchmal weiß, was ich einmal wusste. Wenn ich mein zweites Gehirn konsultiere, sehe ich, dass ich – obwohl ich eine bestimmte Sache heute nicht mehr weiß – sie früher einmal sehr wohl wusste. In meinem anderen Gehirn. Im Journal.“
Dort wird es sichtbar.
Du könntest auch Patti Smith‘ Erfahrung zustimmen, die ein Notizbuch als die Heimat für unendliche Variationen desselben Paragraphen sieht. Sie schreibt:
“Then there are the scores of notebooks, their contents calling—confession, revelation, endless variations of the same paragraphs—and piles of napkins scrawled with incomprehensible rants.”
Oder vielleicht ist das Notebook, das du hast, eine Heimat für das unversöhnliche Ich.
In wahrer Joan Didion-Manier:
“But our notebooks give us away, for however dutifully we record what we see around us, the common denominator of all we see is always, transparently, shamelessly, the implacable`I`.”
Wir sprechen hier nicht über die Art Notizbuch, die für die öffentliche Nutzung gedacht ist oder über eine Ansammlung von ausgefeilten Gedanken. Wir sprechen hier über etwas Privates, über Stückchen aus unserem Kopf, die wir zusammengebunden haben, die zu kurz sind, um sie zu benutzen. Eine ungeordnete und erratische Sammlung mit Bedeutung, die sie nur für uns haben. Als ich ein Kind war, hatte ich eine Art Tagebuch, ein schwarzes Büchlein mit Seiten, auf die ich mit Wasserfarben gemalt habe. Und dann habe ich die Seiten gefärbt. Kleine Gedichte geschrieben.
Als ich eine junge Frau war, begann ich, Tagebuch zu führen, indem ich Worte von Schriftstellern sammelte … Als es mir eine Zeitlang nicht gut ging hatte ich ein Tagebuch voll mit Zitaten von Architekten, Designern, Konstrukteuren, als ob sie zu mir sprechen würden, zu meiner Stimmung, zu meiner Suche:
“When we build, let us think that we build forever.”
John Ruskin
“We could speak of every project as if it were an unfinished love affair: it is most beautiful before it ends.”
Aldo Rossi
“Should we not try to find our own style?”
Karl Friedrich Schinkel
Ich habe Tagebücher, die die Entstehung meiner Geschichten dokumentieren und Tagebücher, die mit der Hoffnung gefüllt sind, dass ich eine Geschichte schreibe mit Ermahnungen an mich selbst, die ich nicht befolgte. Zum Beispiel: „Nicht Stil, sondern Stimme, nicht Stimme, sondern Story, nicht Story, sondern eine existenzielle Erkenntnis: Was lebt? Was ist verloren? Und warum ist, das einzige Wort, das mich anspricht: Verzweiflung?
Heute frage ich mich: Was ist mit der Geschichte passiert? Warum habe ich meine eigene Verzweiflung losgelassen?
…
Es gibt keine Journal-Regeln, aber es gibt hier einen Vorschlag:
Dass unser Sehen, unser Hören, unser Riechen, unser Tasten, unser Gefühl, unser Wissen, unsere Kunst der Momente schärfer wird, ehrlicher lebendiger.
Wenn ich ein Journal irgendeiner Art in der Nähe habe, einen Platz, der den Punkt markiert, die Stimmung festhält oder den Moment, dann schaue ich zu oder höre zu, sodass ich das Ganze irgendwann aufschreibe. Und Du sagst vielleicht zu dir selbst, dass Du Dich ganz natürlich darum bemühen wirst, mehr zu sehen und zu hören, weil ein Stift oder Papier oder das iPhone oder iPad oder die Schreibmaschine Dich schon erwarten.
Du wirst die Pausen intensivieren. Du wirst Fragen stellen, Du wirst jede einzelne Feder der Saatkrähen auf dem Feld und jeden Schnabel genauer angucken und dich wundern. Und Du wirst dich fragen: Was ist das Wort für diese dunkle Symphonie von Flügeln?
Du wirst in einen Moment eintreten, sodass du ihn heraushebt und in Sprache gießt und vielleicht zu einer Geschichte werden lässt, wenn die Zeit endlich reif ist.
Ende des Blog-Artikels
Einladung für die Journal-Schreiberinnen:
Liste drei Minuten lang alle besonderen Momente der jüngeren oder ferneren Vergangenheit in Stichpunkten auf – egal, was es ist.
Nun wähle einen Moment und schreibe dazu – ein Gedicht, einen Brief an den Moment, eine Geschichte, die in diesem Moment beginnt, endet oder an Erkenntnisse und Erfahrungen erinnert, die Du schon mal hattest ….
Mind. 7 Minuten
Viel Spaß!