Ein Schlüssel zum heilsamen Schreiben

Gerlinde Schwarz erklärt, wie wir Ideen durch freies Schreiben einfach sprießen lassen:

Freies Schreiben (englisch freewriting oder flowwriting) ist im Idealfall hemmungsloses, angstfreies Fabulieren. Es kann ein Thema, einen Begriff, einen Text zum Ausgangspunkt haben, muss es aber nicht. Beim freien Schreiben wird jeder Gedanke – und sei er noch so wirr, banal oder abwegig – zügig ohne Abkürzungen aufs Papier gebracht. Der Bewusstseinsstrom fließt unzensiert und direkt. Wichtig ist die Unmittelbarkeit, die große Geste. Bewertet, sortiert und reflektiert wird später.

Der Begriff freewriting wurde in den USA der 1960er und 70er Jahre von Ken Macrorie und Peter Elbow geprägt. Vorläufer sind im „automatischen Schreiben“ (ècriture automatique) der Surréalisten zu suchen. Birgit Schreiber nennt es „Ideen säen“ und betrachtet dies als Schlüssel für alle Türen im „Haus des Schreibens“, der Möglichkeitsräume, Spielräume und Freiräume öffnet. Egal wie es genannt wird, die Technik ist denkbar einfach und wird sowohl im kreativen als auch im therapeutischen Kontext eingesetzt, um die Angst vor dem leeren Blatt zu überwinden, Herz und Hirn zu klären, die innere Stimme oder Themen zu finden – ob für einen Roman, einen Schulaufsatz oder das eigene Leben – und in erster Linie, um Ideen sprießen zu lassen.

 „Frei“ bedeutet auch, dass „Sicherheit“ schwindet. Deshalb sollte nicht jede*r ungeschützt in diese Methode eintauchen, denn sie vermag Unbewusstes an die Oberfläche zu holen. Und das ist nicht immer erwünscht. Kate Thompson warnt vor freewritings, wenn Schreibende an der Schwelle zur Psychose stehen, unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder unter schweren Depressionen leiden. Da zeitliche und räumliche Rahmen Halt bieten, sollten Neulinge die Dauer des freien Schreibens begrenzen und erst allmählich auf bis zu 20 Minuten steigern. Höchste Zeit, diese Methode zu erproben!

Anleitung für ein freewriting, frei nach Natalie Goldberg (2003) und Birgit Schreiber (2017)

  1. Stelle eine Stoppuhr anfangs auf 2, 5 höchstens 10 Minuten.
  2. Schreibe alles nieder, was dir durch den Kopf geht. Betrachte den Stift als Antenne oder Radar für intime Gedanken, Gefühle, Stimmungen.
  3. Halte während der Schreibzeit deine Schreibhand in Bewegung.
  4. Schaue nicht zurück. Lies nicht, was du geschrieben hast.
  5. Streiche nichts, korrigiere nichts.
  6. Kümmere dich nicht um Rechtschreibung, Zeichensetzung oder Grammatik.
  7. Lass dich gehen. Denke nicht. Versuche nicht, logisch zu sein.
  8. Wenn du stockst, schreibe so lange das letzte Wort oder den Satz „Ich weiß nicht weiter.“ bis der Stift dich wieder führt.
  9. Weiche dem wunden Punkt nicht aus. (N. Goldberg)
  10. Nach Ablauf der Zeit: Staune & ernte! (B.Schreiber)

Ein reflektierender „Erntesatz“ (Birgit Schreiber) bzw. ein „feedback loop“ (Kate Thompson) macht Journal Writing zu therapeutischem Journal Writing.

Meiner Meinung nach geht es auch im kreativen Prozess genau darum: Um das Körnchen Saatgut, das nach der Ernte weiter kultiviert werden kann. So beginnt der Prozess von Neuem: die frisch geernteten Samen werden in hohem Bogen aus dem Bauch heraus auf fruchtbaren Boden gestreut, auf dass neue Ideen sprießen.

Quellen:

Breton, André: SURREALISTISCHES MANIFEST (1924).

https://www.schlingensief.com/downloads/manifest.pdf (abgerufen 11.2.2021)

Goldberg, Natalie (2003): SCHREIBEN IN CAFÉS. Berlin: Autorenhausverlag

Schreiber, Birgit (2017): SCHREIBEN ZUR SELBSTHILFE. Worte finden, Glück erleben, gesund sein. Berlin: Springer Verlag GmbH

Thompson, Kate (2011): THERAPEUTIC JOURNAL WRITING. An Introduction for Professionals. London: Jessica Kingsley Publishers.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

wp-puzzle.com logo
Nach oben scrollen